Das „S“-Element bei ESG – Teil 1: Ein anspruchsvoller Faktor

Das „S“-Element bei ESG – Teil 1: Ein anspruchsvoller Faktor

19/11/2019

Wir zeigen die Schwierigkeiten bei der Berücksichtigung des „S“-Elements in einer  ESG Strategie auf. Dazu gehören die Herausforderungen um die Definitionen, die Messung von den Auswirkungen, die Interpretation von Daten sowie das Verhältnis zu den anderen ESG-Kennzahlen.  

Institutionelle Anleger binden zunehmend Umwelt-, Soziale- und Governance-Faktoren (ESG) in ihre Anlagestrategie ein, um die Rendite zu verbessern, die Risiken zu reduzieren und das Image zu schützen. Dabei hat die Praxis gezeigt, dass von den drei Komponenten der Faktor „Sozial“ am schwierigsten zu definieren und zu integrieren ist. In BNP Paribas‘ 2019 Global ESG Survey  gaben 46 % der Teilnehmer an, dass sich dieses Kriterium  am schwierigsten analysieren und in ihre Strategien einbinden lässt.

Soziale Messgrößen umfassen den Umgang eines Unternehmens mit seiner Belegschaft sowie die Auswirkungen auf die Gesellschaft durch die Beziehungen zu Kunden, Lieferanten und lokalen Communities. In diesem Sinne geht es nicht nur darum, mögliche Schäden zu begrenzen, sondern auch um die Schaffung eines gesellschaftlichen Nutzens. Dadurch gestaltet sich die Bewertung oft schwieriger als bei Umweltfaktoren, wo meist die Schadensbegrenzung im Mittelpunkt steht, oder bei der Governance, die sich in der Regel innerhalb der bestehenden rechtlichen oder verwaltungstechnischen Rahmenbedingungen abspielt.

Um die Herausforderungen der Integration des „S-Faktors“ der ESG-Kriterien zu verstehen, müssen wir mit einer grundlegenden Frage beginnen: Was bedeutet eigentlich „sozial“?

Definition des „S“

Eine große Herausforderung stellt zunächst die enorme Bandbreite an Messgrößen dar, die einen sozialen Sachverhalt abbilden können. Diese reichen von den Arbeitgeber-/Arbeitnehmerbeziehungen über die Diversität  der Mitarbeiter, bis hin zu den Beschaffungs- und Lieferkettenpraktiken. „Anleger wollen Beweise dafür, dass es tatsächlich positive soziale Auswirkungen gibt“, so Anjuli Pandit, Primary Sustainability Manager bei BNP Paribas. „Im gemeinnützigen Sektor dürfte die Berichterstattung zu den sozialen Auswirkungen das umstrittenste und am meisten diskutierte Thema sein. Nichtregierungsorganisationen haben hierfür bislang keine überzeugende Lösung gefunden, obwohl bei vielen von ihnen das Reporting über soziale Auswirkungen den eigentlichen Schwerpunkt bildet. Daher überrascht es nicht, dass sich auch Unternehmen hier schwer tun, zumal sie diese Kompetenzen oft von Grund auf neu aufbauen müssen.“

Eine weitere Schwierigkeit sind die je nach Region und Kulturkreis verschiedenen Definitionen und der unterschiedliche Stellenwert, der den diversen sozialen Themen beigemessen wird. „In Kontinentaleuropa steht der Klimawandel bei Anlegern ganz oben auf der Liste der ESG-Faktoren, gefolgt von sozialen Themen wie z. B. Arbeits- und Menschenrechte“, erklärt Leon Kamhi, Head of Responsibility bei Hermes Investment Management. „Darüber hinaus ist z.B. in Großbritannien das Thema Mitarbeiter Diversität stärker in den Fokus gerückt. In den USA hingegen haben sich Investoren, insbesondere öffentliche Fonds, in der Vergangenheit stark auf die Governance konzentriert. Aber auch hier ist festzustellen, dass Themen wie Klimawandel und Diversität inzwischen weit oben auf der Agenda stehen.“

Indexanbieter kommen bei der Entwicklung von Indizes, die die vielen verschiedenen Faktoren aus den Bereichen Gesellschaft, Umwelt und Governance kombinieren und bewerten, immer besser voran. Die starke Zunahme spezifischer ESG-Indizes ist bislang jedoch dominiert von Umweltthemen und es gibt weitaus weniger Indizes, die explizit soziale Themen berücksichtigen. MSCI hat beispielsweise 10 thematische Indizes im Angebot, von denen sich die Hälfte auf den Faktor Umwelt konzentriert und nur zwei den Fokus ausdrücklich auf das „S“ legen. Es gibt keine branchenweite „Sozial-Benchmark“, der die meisten Anleger zustimmen würden.

Veränderungen messen

Selbst wenn ein relevanter sozialer Faktor identifiziert wurde, sind seine Auswirkungen möglicherweise schwer messbar. „Es lässt sich nicht ohne Weiteres feststellen, ob eine Investment Return auch einen gesellschaftlichen Nutzen bringt“, so David Harris, Group Head of Sustainable Business der London Stock Exchange Group und Head of Sustainable Investment bei FTSE Russell. „Ein Beispiel: Hat Bildung einen sozialen Nutzen, wenn Privatunternehmen eher wohlhabende Kinder unterrichten?“

Anders als bei der Bewertung von Umweltfaktoren, wie z. B. der Reduzierung von Kohlenstoffemissionen, gibt es bei sozialen Indikatoren oft keinen eindeutigen Start- und Zielpunkt. Nehmen wir beispielsweise das Thema Beschäftigung. Ein Unternehmen beschäftigt vielleicht Menschen in ländlichen Gebieten, wo die Arbeitsplätze rar sind. Doch dann wird genauer hingeschaut: Beschäftigt es sowohl Männer als auch Frauen? Und wird ihnen der Mindestlohn oder ein existenzsichernder Lohn gezahlt? Werden die Menschen als Gelegenheitsarbeiter oder als Vollzeitarbeiter mit Arbeitsplatzsicherheit beschäftigt? Die Fragen sind endlos.

Die Datenherausforderung

Die qualitative Natur vieler Sozialprogramme macht die Übertragung in aussagekräftige Performance Indikatoren, die von Anlegern effizient genutzt werden können, schwierig. Verstärkt wird die Problematik dadurch, dass es an relevanten Daten mangelt. In der Vergangenheit lag die Priorität der Investoren auf Umweltfaktoren, daher haben Emittenten Systeme und Berichtskonzepte zu Themen wie z. B. Kohlenstoffemissionen, fossile Brennstoffreserven und Nutzung von sauberer Energie entwickelt. Im Vergleich dazu verfügen nur wenige Unternehmen über das erforderliche Berichtswesen, um Daten zu sozialen Themen präsentieren zu können.

„Weltweit melden etwa 40 % der großen und mittelgroßen Unternehmen ihre Kohlenstoffemissionen, wobei diese Unternehmen für etwa 70 % der gesamten Emissionen verantwortlich sind. Doch weniger als ein Drittel der großen und mittelgroßen Unternehmen in den relevanten Branchen weisen die Anzahl der tödlichen Arbeitsunfälle aus. Anleger müssen eine verbesserte Offenlegung bei wichtigen sozialen Messgrößen fordern.“

David Harris, Group Head of Sustainable Business der London Stock Exchange Group und Head of Sustainable Investment, FTSE Russell

Das Fehlen eines standardisierten Reporting bedeutet auch, dass die Datenlieferanten anhand mehrerer Faktoren eigene Annahmen treffen und Gewichtungen vornehmen müssen. Folglich gibt es nur wenig Vergleichbarkeit der Daten verschiedener Anbieter. Eine im August 2018 veröffentlichte Studie von Schroders zeigt bei sozialen Themen lediglich eine Korrelation von 0,3.

Derzeit können Anleger die verfügbaren Daten zu sozialen Faktoren bestenfalls als Richtschnur betrachten und nicht als verlässliche Informationsquelle mit Normcharakter. „Für Investoren ist es wichtig, die zugrunde liegenden Faktoren wirklich genau zu recherchieren und nachzuvollziehen, wie die ESG-Scores zustande kommen. Aktuell bedarf es dazu eine Mischung aus den richtigen Mitarbeitern als auch Technologien und den richtigen IT Kapazitäten zur Durchführung der Analysen – und dann bleibt immer noch ein Stück subjektiver Interpretation“, so Dietmar Roessler, Mitglied der Geschäftsleitung, BNP Paribas Securities Services.

Das Gesamtbild sehen

Inzwischen wird immer deutlicher, dass die ESG-Elemente eng miteinander verknüpft sind. Soziale Themen haben oft einen Umweltbezug und Verbesserungen oder Abhilfemaßnahmen in einem Bereich können sich positiv auf den jeweils anderen Bereich auswirken. Beispielsweise muss die globale Erwärmung mit einem Minimum an Leid für die ärmeren Menschen in der Gesellschaft (z. B. Subsistenzlandwirte) eingedämmt werden. Die Finanzierung von Bildung und Familienplanung für Mädchen in Entwicklungsländern kann zur Senkung der Geburtenrate beitragen, was gleichzeitig die Umweltbelastung des Planeten verringert.

„Der Großteil der aktuellen sozialen Belange hat einen starken Bezug zur Umwelt. Sie können nicht separat angegangen werden.“

Anjuli Pandit, Primary Sustainability Manager, BNP Paribas

Damit erhöht sich jedoch auch die Komplexität. So kann eine soziale Messgröße mit einem Umweltindikator in Konflikt stehen oder etwa mit einer anderen sozialen Kennzahl. In gleichem Maße wie die Abwanderung in die Städte die Beschäftigungszahlen steigen lässt und die Kompetenzentwicklung fördert, erhöht sie auch die Umweltbelastung durch Verschmutzung und Stromverbrauch und schafft zudem soziale Probleme wie z. B. Überbevölkerung und Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Da 65 % der institutionellen Investoren ihre Anlagekonzepte an den Zielen der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) (BNP Paribas Survey 2019) ausrichten, wägen die Unternehmen beim Versuch, soziale Faktoren weiter zu integrieren, die einzelnen Anforderungen sorgfältig gegeneinander ab.

Eine Lösung muss her

Trotz der vielen Herausforderungen ist die Analyse und Integration sozialer Faktoren ein Muss, da immer mehr Indikatoren für einen direkten Zusammenhang zwischen positiven sozialen Praktiken und dem wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens sprechen. Eine Studie von Deutsche Asset & Wealth Management und der Universität Hamburg aus dem Jahr 2015 ergab eine positive Korrelation zwischen einer guten Performance im Bereich der sozialen Faktoren und einer guten finanziellen Performance.

Grund zum Optimismus besteht auf jeden Fall: Aufsichtsbehörden, Börsen und Investoren fordern erfolgreich, dass Unternehmen aussagekräftigere Daten zur Verfügung stellen. Gleichzeitig eröffnen Analysten durch einen immer kreativeren Technologieeinsatz neue Perspektiven. Im zweiten Teil dieser Reihe werden diese Lösungen näher untersucht.