Versicherer und die Herausforderung Solvency II

Der weltweite Ausbruch des Coronavirus und die damit einhergehenden rückläufigen Zinsen machen es den europäischen Versicherern schwer, eine stabile Solvency-II-Quote aufrechtzuerhalten. Zwar hat das Solvency-II-Regelwerk die Kongruenz von Vermögenswerten und Verbindlichkeiten sowie das Risikomanagement im Versicherungssektor verbessert, die derzeit angewandte zugrunde liegende Berechnungsmethode verstärkt jedoch die Sensitivität der Versicherer gegenüber Zinsänderungen. Unsere Expertin Marie-Laure Richard beleuchtet diese Diskrepanz im Kontext der Überprüfung der Solvency-II-Richtlinie. 

Versicherer und die Herausforderung Solvency II

Solvency II hat für viele Versicherer das aktuelle Umfeld niedriger bzw. negativer Zinssätze zu einer noch größeren Herausforderung werden lassen.

Da die Zinssätze in den letzten zwanzig Jahren kontinuierlich gefallen sind, wurde es für die Versicherer (insbesondere Lebensversicherer) immer schwerer, die Wertentwicklung der Spar- oder Pensionspläne der Versicherungsnehmer zu garantieren. Mit dem Abrutschen der Zinsen in den negativen Bereich ist selbst eine Garantie von null Prozent auf den investierten Betrag fast unmöglich. Durch Solvency II wird es noch schwieriger und dringender, sich an dieses Umfeld anzupassen.

Solvency II hat eindeutig die Mechanismen der Branche zur Herstellung der Kongruenz von Vermögenswerten und Verbindlichkeiten sowie für das Risikomanagement verbessert. Dies ist insgesamt für Versicherungsnehmer (geringeres Ausfallrisiko der Versicherer) und auch den Sektor (Verringerung des systemischen Risikos) positiv zu werten. Dennoch erhöht die auf dem Marktrisiko abstellende Berechnungsmethode die Sensitivität der Versicherer gegenüber Zinssätzen, da sie deren Bilanzpositionen nicht vollumfänglich widerspiegelt und die Absicherung verkompliziert und verteuert.

Die aktuelle Überprüfung von Solvency II bietet der Europäischen Kommission und der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA) die Chance, das Regelwerk dahingehend zu ändern, dass die Versicherer tatsächlich ihre Rolle als Anbieter von Altersvorsorge gerecht werden können. Eine Lösung für das Problem Zinssensitivität zu finden, wird eines der anspruchsvollsten, aber gleichzeitig wichtigsten Aufgaben bei der Überarbeitung sein.

Die Corona-Pandemie hat die Bedeutung dieser Aufgabe noch verstärkt. Die Covid-19-Krise hat nämlich zu einer weiteren Zinssenkung in Europa geführt, das Zinsniveau in den USA und dem Vereinigten Königreich auf historische Tiefstände fallen lassen und jegliche Hoffnung auf eine Erholung der Zinssätze in der nahen Zukunft begraben.

Quelle: Capital IQ, Stand: 24. April 2020

Die europäischen Versicherer waren auf diesen Zinsrückgang besser vorbereitet als ihre US-amerikanischen Pendants, da sie bereits den abrupten Zinsverfall im Sommer 2019 zu spüren bekamen, woraufhin viele eine Absicherung vornahmen. Dennoch ist die Wahrung der Solvabilität in einem von extrem niedrigen Zinsen geprägten Umfeld nach wie vor ein komplexes Unterfangen, und jede weitere Zinssenkung versetzt der Branche einen neuen Stich.

Bilanzielle Volatilität unter Solvency II

Der Wert des Eigenkapitals gemäß Solvency II ist der Nettovermögenswert, d. h. der Unterschied zwischen dem Wert der Vermögenswerte und der Verbindlichkeiten eines Versicherers. Dabei gilt jedoch:

  • Die Vermögenswerte werden streng zum Marktwert angesetzt.
  • Die Verbindlichkeiten werden unter Anwendung einer regulatorischen risikofreien Zinsstrukturkurve zum Marktwert angesetzt.
Bilanz nach Solvency II

Abgesehen davon, dass die Anwendung einer risikofreien Zinsstrukturkurve für Verbindlichkeiten und einer risikobehafteten Kurve für Vermögenswerte inkongruent ist, impliziert die volle Bewertung der Bilanz zu Marktwerten eine Fristeninkongruenz zwischen Vermögenswerten und Verbindlichkeiten und führt nach Solvency II zu Volatilität in der Bilanz und bei den Eigenmitteln. Dies erhöht die Sensitivität der Versicherer gegenüber Renditeänderungen. Die Notwendigkeit der Fristenkongruenz, vor allem bei Lebensversicherer mit langfristigen Verbindlichkeiten, erklärt die große Nachfrage nach langfristigen Vermögenswerten und einer entsprechenden Abflachung der Zinsstrukturkurve. Selbst eine Absicherung auf „Delta-Basis“ (bei einer parallelen Entwicklung der Kurve) reicht nicht aus, da die Versicherer ein gewisses Zinsrisiko behalten – denn die Zinssätze entwickeln sich selten parallel.

Darüber hinaus muss jede Art der Absicherung dynamisch gemanagt werden. Klassische Lebensversicherungsverträge bieten Versicherungsnehmern die Option, ihren Vertrag vorzeitig zurückzukaufen, was sie nur dann tun, wenn die aktuellen Zinssätze die vertragliche Garantie übersteigen. Umgekehrt üben die Versicherungsnehmer ihre Option bei fallenden Zinsen eher nicht aus, sodass sich die Laufzeit der Verbindlichkeiten verlängert. In Ländern wie Deutschland und den Niederlanden mit hohen Leistungsgarantien ist diese Option wenig interessant. Wird ein niedrigerer Betrag garantiert, wie etwa in Frankreich und Italien, kann die Option einen beträchtlichen Wert darstellen. Deshalb müssen die Versicherer ihre Zinskongruenz regelmäßig neu anpassen. 

Sensitivität der Solvency-II-Quoten gegenüber der Zinsentwicklung

Das Zinsniveau wirkt sich auch stark auf die Solvabilitätskapitalanforderung an Versicherer aus. Es handelt sich hierbei um eine Sollgröße für das Eigenkapital, das jeder Versicherer und Rückversicherer vorhalten muss, um die Fortführung seiner Geschäftstätigkeit zu gewährleisten.

Die Solvabilitätskapitalanforderung beinhaltet einen Zinsaufwand. Für Versicherer, die die „Standardformel“ anwenden, ist dieser Zinsaufwand sehr gering und unterschätzt den durch einen Zinsrückgang verursachten Schock (je niedriger die Zinsen, desto geringer der Schock, wobei eine Untergrenze von 0 % bedeutet, dass der Schock eines Zinsrückgangs als Null berechnet wird, wenn die Zinsen negativ sind). Versicherer, die ihr eigenes Modell anwenden, beziehen bereits einen Zinsaufwand ein, und viele haben die Untergrenze von 0 % abgeschafft.

Als die EIOPA 2018 die Standardformel überprüfte, drängte sie auf eine Anhebung des Zinsaufwands (Abschaffung der Untergrenze und Zunahme der Schocks), die Europäische Kommission schloss sie aber in Anbetracht der Auswirkung auf die Solvabilitätsquoten der Versicherer aus. Die im Dezember 2020 abgeschlossene Überprüfung bietet der EIOPA eine neue Chance, beim Zinsaufwand eine Änderung vorzunehmen, sofern sie einen Ausgleich schaffen kann.

Abgesehen von dem speziellen Zinsaufwand besteht ohnehin eine sehr hohe Sensitivität der Solvabilitätskapitalanforderung gegenüber Zinsänderungen. Bei fallenden Zinsen werden die künftigen Kapitalabflussberechnungen anhand von niedrigeren Zinssätzen abgezinst, wodurch sich noch höhere Abflüsse ergeben. Diese Sensitivität gegenüber Zinsänderungen verkompliziert und verteuert die Absicherung.

Sensitivität der Solvency-II-Quoten von Versicherungsgesellschaften gegenüber Zinsänderungen

Auswirkung eines Zinsrückgangs um 50 Bp auf Solvency-II-Quoten
Quelle: Unternehmenseigene Präsentationen (auf Grundlage der Solvency-II-Quoten Stand 31. Dezember 2019)

Auch ohne Vorgabe der Aufsichtsbehörde veröffentlichen alle europäischen Versicherer die Sensitivität ihrer Solvency-II-Quote gegenüber Marktschwankungen. Betrachtet man nur die Sensitivität bei einem Zinsschock, zeigt sich deutlich, dass die Auswirkung auf die Quote bei jedem Versicherer anders ausfällt. Selbst unter Berücksichtigung des Schocks liegen alle Quoten im obigen Säulendiagramm über 160 %.

Dilemma Absicherung

Solvency II hat zu größerer Transparenz bei der Sensitivität der Versicherer gegenüber Marktentwicklungen beigetragen, die entsprechend auch Gegenmaßnahmen ergriffen haben. Das Regelwerk neigt jedoch auch zum „Übertreiben“ sowie dazu, das Problem der Sensitivität gegenüber Zinsveränderungen zu verkomplizieren.

Solvency II beruht auf der Annahme, dass eine künftige Durationslücke irgendwann abgesichert werden muss. Somit empfiehlt es sich, Kapital in Erwartung notwendiger Reinvestitionen zurückzustellen.

In Ländern, in denen Versicherer zu einer festen Größe im Bereich Altersvorsorge geworden sind, sind Aufsichtsbehörden und die Öffentlichkeit außerdem der Meinung, dass Versicherer dafür sorgen müssen, Versicherungsnehmern bei Eintritt in den Ruhestand eine ordentliche Pension zu garantieren. Bei einem stringenten Risikomanagement dürfen Versicherer nur dann diese Garantie geben, wenn sie sich absolut sicher sind, sie auch einhalten zu können. Dazu sind sie bestrebt, eine Kongruenz zwischen künftigen Kapitalabflüssen und langfristigen Vermögenswerten herzustellen.

Solvency II ist allerdings ein derart komplexes Modell, dass

  • Teile des Zinsrisikos „nicht wirtschaftlich“ sind, was bedeutet, dass Versicherer mit komfortablen Kapitalpuffern keinen Anreiz zur Absicherung haben, und
  • die Absicherung kompliziert und teuer wird.

So ist die Risikomarge eine weitere Rückstellung für die Restlaufzeit der bestehenden Verträge zwecks Deckung der Lebensversicherungsrisiken. Es ist die Summe der Solvabilitätskapitalanforderungen, welche zu unterschiedlichen Zeitpunkten bis zum Ablauf des letzten Vertrags berechnet und dann auf den heutigen Tag abgezinst werden, die zu einer extrem hohen Sensitivität der Rückstellungen gegenüber Zinsänderungen führt. Da es sich um eine rein regulatorische Rückstellung handelt, entscheiden sich viele Versicherer gegen eine Absicherung.

Die Ultimate Forward Rate (UFR) sorgt für eine ähnliche inkongruente, regulatorisch bedingte Sensitivität gegenüber Zinsänderungen. Gemäß Solvency II entsprechen die „Best Estimates der Verbindlichkeiten“ den prognostizierten Kapitalzu- bzw. -abflüssen bei bestehenden Versicherungsverträgen, wobei die abgezinsten Kapitalflüsse anhand einer von der EIOPA bereitgestellten regulatorischen Kurve abgezinst werden. Die Kurve wird unter Verwendung von 1.) Marktparametern bis zum 20-Jahres-Punkt (für EUR) und 2.) einer einfachen Interpolation zwischen dem letzten Marktpunkt (20 Jahre) und einem letzten bei 60 Jahren festgesetzten Punkt, der fix ist und auf Basis historischer langfristiger Zinssätze berechnet wird, erstellt. Der „liquide“ Teil der Kurve (bis zu 20 Jahren) verläuft also entsprechend der Marktentwicklung, während sich das langfristige Ende (20 bis 60 Jahre) deutlich weniger verändert. Für Versicherer, die sich über 20 Jahre hinaus engagieren, ist die Herstellung der Fristenkongruenz mittels Marktinstrumenten wie z. B. Swaps problematisch, da sich der Wert der Verbindlichkeiten unabhängig von der Marktentwicklung und von den Absicherungsinstrumenten verändert.

Regulatorische Kurve im Vergleich zur Marktkurve der Eurozone
Quelle: Capital IQ, 24. April 2020 und Angabe der risikofreien Zinssätze laut EIOPA, 31. März 2020

Chance zur Überarbeitung

Es ist für Versicherer schwierig, eine stabile Solvency-II-Quote aufrechtzuerhalten, da sowohl der Zähler (Eigenkapital) als auch der Nenner (Eigenkapitalanforderung) der Quote extrem sensibel auf Marktparameter und dabei insbesondere auf das Zinsniveau reagieren. In dem aktuellen Umfeld äußerst niedriger Zinsen ist es inzwischen für einige Versicherer nicht mehr möglich, die Sensitivität der Quote zu managen. Dies hat beispielsweise die französische Aufsichtsbehörde dazu veranlasst, es den Versicherern zu gestatten, ihre Überschussbeteiligung für die Versicherungsnehmer in ihr Eigenkapital (statt in den Best Estimates der Verbindlichkeiten) einzubeziehen.

Es bleibt abzuwarten, ob die jüngsten, durch die Coronakrise ausgelösten Zinsrückgänge die EIOPA zum Überdenken ihrer Position veranlasst, wenn sie das Zinssatzmodul der Solvabilitätskapitalanforderung überprüft. So oder so wird sich die Aufsichtsbehörde mit den wichtigsten Stakeholdern zwecks Feinabstimmung des Regelwerks austauschen, um zu gewährleisten, dass es auch weiterhin die sich verändernden Marktbedingungen akkurat widerspiegelt. Die wichtigste Säule dieses Überprüfungsprozesses wird eindeutig das Ausloten der richtigen Balance zwischen einer Quote, die genau das von den Versicherern übernommene Risiko widerspiegelt und gleichzeitig anerkennt, dass ein großer Anteil ihrer Verbindlichkeiten langfristiger Natur und „stabil“ sind und sich daher wohl nicht entsprechend der Märkte entwickeln, was derzeit der Fall ist.

Wird diese Balance nicht gefunden, wird dadurch die Fähigkeit der Versicherer, die Altersversorgungslücke in Europa im erklärten Sinne der Aufsichtsbehörden zu schließen, ernsthaft beeinträchtigt.

Unser Angebot

Wir von BNP Paribas Securities Services haben ein Spektrum an Risiko- und Performanceanalysen und Berichterstattungslösungen für unsere Kunden in der Versicherungsbranche aufgebaut. Dazu gehören:

  • Eine Solvency-II-Durchschau (Look-through), die die Berechnung der Solvabilitätskapitalanforderung, Überwachung und Berichterstattung beinhaltet und auf eine Minimierung der Kapitalrückstellungsanforderung ausgerichtet ist
  • Ein Bewertungstool (ESG-Risikoanalyse) für nachhaltige Investments, das unseren Kunden helfen soll, die in ihren Anlageportfolios enthaltenen ESG-Risiken besser zu verstehen und zu managen
  • Ein Tool für die Portfoliokonsolidierung, das einen komplett konsolidierten und transparenten Überblick über die finanzielle Solidität der gesamten Investments bietet

BNP Paribas Securities Services ist als Multi-Asset-Verwahrstelle und Wertpapierdienstleister mit lokaler Kompetenz in 36 Ländern tätig und deckt mit ihrer globalen Reichweite mehr als 90 Märkte ab. Dieses weitreichende Netzwerk ermöglicht uns, unsere institutionellen Anleger zu vernetzen und mit den benötigten lokalen Informationen zu versorgen, damit sie mit der Entwicklung der sich rasant verändernden Finanzwelt Schritt halten zu können. Stand 30. September 2020 verwahrte BNP Paribas Securities Services Vermögenswerte im Wert von 10.284 Milliarden EUR, verwaltete Vermögenswerte im Wert von 2.537 Milliarden EUR und verwaltete 10.661 Fonds. Die Bank bietet umfassende Multi-Asset-Lösungen sowie Middle- und Back-Office-Leistungen und betreut aktuell zehn der größten europäischen Versicherungskonzerne.